Erratum Fallbeispiel 1: „Der Nächste, bitte“

Quelle: Ernst Meyer, Unterrichtsvorbereitung in Beispielen. Verlag F. Kamp, Bochum, o.J., S. 8 ff (leicht verändert)

Didaktische Intention

Im Blick auf zu erwartende Besucher hatte sich der Lehrer be­sonders gut vorbereitet. Als Ziel hatte er sich - wie er in einer Besprechung darlegte - die Auswertung von Schillers „Bürgschaft"[1] gesetzt. Seine Vorüberlegungen kreisten um den Gedanken: Wie erziele ich eine gute Leistungskontrolle (Kenntnis des Gedichtes), wie beachte ich dabei besonders das Prinzip der Lebensnähe? Den Besuchern sollte deutlich werden, daß man in einem 7. Schul­jahr der Volksschule in geeigneter Weise moderne didaktische Prinzipien gebührend berücksichtigen kann. Die Forderung, „nicht im Gleichschritt zu marschieren", mußte irgendwie erfüllt werden. Die Klasse sollte differenziert - in Gruppen - arbeiten und zum Gespräch gebracht werden.

Didaktische Wirklichkeit: Tatsächlicher Verlauf (Protokollskizze)

Die 32 Schüler und Schülerinnen eines 7. Schuljahres sitzen in frontaler Ordnung an Zweiertischen. Jeweils vier Tische sind zu einer durchlaufenden Reihe zusammengeschoben. Der Lehrer steht vorn, er blickt auf die Uhr.

8.05 Uhr:

 Lehrer:

Ihr hattet alle eine Kleinigkeit zu lernen!

Schüler:

Ja, zwanzig Strophen!

Lehrer:

Gut - wenn ihr aber nun glaubt, ich würde euch die zwanzig Strophen der Reihe nach abhören, habt ihr euch geirrt! Dann ginge die ganze Stunde drauf! Wir machen das geschickter in Gruppen. Blatt raus!

(Die Kinder nehmen ein Blatt aus der Tasche)

Schnellerl Bleistiftl - Aufpassen! Gruppe eins - das ist die Reihe hinter Walter - Gruppe eins Hand hoch' - schreibt die erste bis dritte Strophe auswendig auf das Blattl - Gruppe zwei - das ist die Reihe hinter Fritz - Gruppe zwei Hand hoch! - schreibt die vier bis fünf -

(Lehrer gibt die gleiche Anweisung für die Niederschrift der folgenden Strophen an die weiteren Gruppen. Die Schüler versuchen, die Strophen niederzuschreiben.)

Lehrer:

(blickt auf die Uhr) Gleich soweit - - Sprich nicht! - Schiel nichtl - Wer ist fertig? (Niemand meldet sich) - Wer fertig ist, schreibt seinen Namen drunterl - (wendet sich zu einem Schüler in der ersten Reihe) Willst du etwa ein ganzes Heft abgeben? Ich habe deut­lich Blatt oder Zettel gesagtl - - Noch eine Minutel - So, jetzt schreibt jeder seinen Namen hinl - Gruppen­arbeit beenden! - Einsammeln die Zettell

(Die Schüler geben die Zettel nach rechts)

Die Schüler, die rechts sitzen, prüfen, ob alle Zettel da sind! - Zettel nach vorn geben!

(Die'Zettel werden vom Lehrer übernommen und den Besuchern überreicht)

So, jetzt können unsere Gäste einmal sehen, was ihr leistet! Ich selbst werde feststellen, wer von euch ge­lernt hat und wer nicht!

(Unruhe in der Klasse)

 

8.20 Uhr:        

Ruhel - Ihr kennt das Gedicht - oder auch nicht! Wir wollen es etwas näher betrachten! Was ist denn der Kern der ganzen Geschichte?

Schüler:

Freundestreue!

Lehrer:  

Sprich im Satzl Freundestreue gibt es heute sowieso kaum noch. Es steht höchstens einmal jemand dem andern in der Gefahr bei. Wie nennt man solche Men­schen heute? - Kennt jemand einen in der Verwandt­schaft, der einen Menschen gerettet hat?

Schüler:

Das ist ein Retter!

Lehrer:  

Nein, man nennt ihn andersl (Mehrere Schüler melden sich)

Schüler:

Da habe ich mal in der Zeitung gelesen, da ist ein Student an der Mosel gewesen, da ist er am Moselufer spazierengegangen - der hat einen Jungen gesehen, wie der in der Mosel untergegangen ist, und da ist der Student -

Lehrer:

Halt - wir haben jetzt Deutsch - fang noch mal an und sprich mal deutsch!

Schüler:

Ich habe einmal in der Zeitung gelesen, da ist ein Student an der Mosel spazierengegangen - - da hat er einen Jungen -

Lehrer:

Schön - ich kenne ja die Geschichte - ich habe sie auch gelesen - doch ich habe das Wort „da" nicht siebenmal gelesen. Setz dich!

Schüler:

Ich habe einmal in der Zeitung gelesen, da ... (Nach­barjunge flüstert ihm etwas zu)

Schüler:

(leise zum Nachbarjungen) Halt doch's Maul!

(Klasse lacht - Schüler setzt sich)

Lehrer:    

Wie nennt man den, den der Student gerettet hat? Schüler: Lebensretterl

Lehrer:    

Nein - besser noch - Wer war mal beim Zahnarzt?

Schüler:  

(murmeln durcheinander) Ich - ja, ich, ich ...

Lehrer:    

Was habt ihr da gesehen? - - Im Wartezimmer?

Schüler:  

Ich hatte Angst!

Lehrer:    

Gut - aber was geschah nun?

Schüler:  

Die Tür ging auf, und ich wurde 'reingerufen.

Lehrer:    

Nein - in einem modernen Wartezimmerl (Mehrere Schüler melden sich)

Da ist etwas über der Tür!

Schüler:

Ein Schild, das aufleuchtetl

Lehrer:           

Ja - und was steht da drauf - na? - - na? - - Der nächste bitte, steht doch drauf! Klar?

Schüler:

(nach längerer Pause) Er rettete den Nächsten!

Lehrer:    

Du hast wirklich darüber nachgedacht, du bist ja direkt begabt!

8.35 Uhr

So - und jetzt sucht einmal Beispiele aus dem täglichen Leben, wo ihr dem Nächsten helftl (es kommen mehrere Beispiele z. B. Almosen an Bett­ler, Spenden an Kirche und Organisation, Micky-Maus­Club u. a. - dabei werden einige Begriffe von einem Kind an die Tafel geschrieben)

8.50 Uhr:

Lehrer:  

Die Stunde ist leider bald zu Ende. Es dauert ja immer etwas lange, bis ihr schaltet. Wir können daher auch keinen Merksatz aufschreiben. - Als Hausaufgabe schreibt ihr Begriffe, die zum Thema „Nächster" ge­hören. Überschrift „Mein Nächster".

 

 


[1] Es handelt sich um eine Ballade, in der erzählt wird, wie der Versuch eines Tyrannenmordes fehlschlägt und der zum Tode Verurteilte zur Abwicklung familiärer … gegen freiwillige Geiselstellung seines Freundes vorübergehend gelassen wird, indessen durch äußere Umstände ohne seine Schuld beinahe nicht rechtzeitig bis zum Ablauf der Frist zurückkommt.

Diese Ballade gehörte der Bundesrepublik Deutschland zum Pflichtkanon der Schulen in der Zeit ca. 1950 bis 1970, sie musste damals noch auswendig gelernt werden. Die Veröffentlichung von Meyer weist keine Jahreszahl auf, ist aber erkennbar aus den 50-er oder 60er Jahren, wahrscheinlich 1961, die 2. Auflage ist für 1962 datiert, 1972 gibt es die 15. Auflage.

Didaktische Fehler und Irrtümer

  • Über die Fallstricke didaktischen Handelns in Theorie und Praxis
  • Wir sind alle nur Menschen
  • Aus unseren Fehlern können wir lernen

„Didaktische Irrtümer“, so überschrieb vor ca. 50 Jahren Ernst Meyer das Protokoll und seine kritische Interpretation einer Unterrichtsstunde. Ich nehme dieses als erstes Beispiel einer Sammlung, die ich zur Erheiterung und zur Nachdenklichkeit erstellen und verbreiten möchte. Vielleicht fühlt sich der eine oder andere Leser angeregt, eigene Erfahrungen beizutragen.

Es soll nicht Häme und Überlegenheitsgefühl sein, was durch diese Sammlung und ihre Verbreitung erzeugt werden soll. Das sieht man am deutlichsten daran, dass ich auch eigene didaktische Fehler und Irrtümer mit aufnehmen werde. Wenn man rund vierzig Jahre im erziehungswissenschaftlichen Betrieb gearbeitet hat, ist man zum einen sicherlich nicht frei von solchen Irrtümern, zum anderen kann man sich die zum Bekenntnis eigener Irrtümer erforderliche Selbstironie wohl leisten.

 

Natürlich hat auch dieses Projekt Vorläufer und meisterliche Beispiele aufzuweisen. Man denke an den skurrilen Dichter zwischen Romantik und Biedermeier, Jean Paul (Richter), der z.B. im Schulmeisterlein Maria Wutz einen Candide der Pädagogik beschrieben hat. Oder Heinrich Scharrelmanns selbstkritische Reflexionen mit großem Pathos.

 

Auch ist daran zu erinnern, das Fehler im Lehr-/Lernprozess oft eine konstruktive Rolle spielen können. Es muss ja nicht gerade das trial-and-error- (Versuchs-Irrtum-) Verfahren sein, mit dem homo sapiens sich durch die eigene Entwicklung laviert. Eine elaborierte Fehlerdidaktik, über deren merkwürdige Ansätze in Deutschland in den 1920er und folgenden Jahren einmal ausführlicher zu recherchieren lohnenswert wäre, ist hingegen nicht zu sehen. Vielleicht ist es als unfein empfunden worden, sich mit den Niederungen von Fehlverhalten zu befassen.